#2 Die ersten Tage

Donnerstag, 17. Januar

Tschüss #dritterstocklinks, tschüss Kiel, tschüss Deutschland. Mein erster und letzter Zwischenstopp ist Moskau. Der Sheremetyevo Flughafen in Moskau hat die Terminal A bis F und Terminal F hat 58 Gates. Mein Flug von Moskau nach Ulaanbaatar wurde auf Terminal F, Gate 58 gelegt. Dass die Mongolei nicht unbedingt zu den hoch frequentierten Reisezielen gehört, wird mir somit einmal mehr ausdrücklich vor Augen geführt. Ab in die Provinz! Es ist kurz nach acht am Morgen, als das Flugzeug langsam zum Landeanflug auf Ulaanbaatar ansetzt. An den Fenstern ziehen leicht verschneite Berggipfel im Rot des Sonnenaufgangs vorbei, die Luft sieht klar und kalt aus. Ich bin müde. Im Gegensatz zu den meisten Mitreisenden hatte ich nicht das Glück im spärlich besetzten Flugzeug drei Sitze für mich alleine zu haben. Statt entspannt im Liegen zu schlummern, habe ich die erste Hälfte der Nacht also damit verbracht, eine angenehme Schlafposition im Sitzen zu finden, um dann aufstehen zu müssen, weil meine Nachbarin auf Toilette musste. Als ich das letzte Mal auf die Uhr geguckt habe, war es halb fünf.

Freitag, 18. Januar

Am Chinggis Khaan Flughafen in Ulaanbaatar holt mich Daagii ab. Er ist der Manager von Naturschutz Mongol, die Schule, an der ich ein halbes Jahr Deutsch unterrichten werde, und für den Empfang der Neuankömmlinge zuständig. Der befürchtete Kälteschock beim Verlassen des Flughafens bleibt aus - es hat bummelige -12 Grad, da kann man sich Mütze und Schal sparen und die Jacke eigentlich auch offen lassen. Nachdem das Einwohnermeldeamt direkt am Flughafen liegt, geht es direkt dorthin. Mein Gepäck packen wir auf den Rücksitz, dann schwinge ich mich wie gewohnt ins Auto - und finde mich hinter dem Lenkrad wieder. Die Mongolen fahren fast ausschließlich Gebrauchtwagen aus Japan und Südkorea und die haben allesamt das Lenkrad auf der rechten Seite. Auf dem Weg zum Einwohnermeldeamt habe ich die erste Idee für ein Spiel auf langen Autofahrten. Wer ein Auto sieht, das KEIN Toyota Prius ist, darf den anderen schlagen. Es wird nie wieder ein Autospiel geben, das weniger gewalttätig ist. Das Einwohnermeldeamt erreicht man über eine Schotterpiste und eine Auffahrt, die kein Mensch, der sein Auto wirklich mag, hochfahren würde. Im Amt selbst gibt es keine Regeln und keine Diskretion und die schreienden Wellensittiche an der Wand tragen nicht unbedingt zur Entspannung bei. Daagii und ich füllen ein paar Zettel aus und werden dann mit dem Auftrag weggeschickt, meine Fingerabdrücke einzuspeichern. Wir gehen um das Gebäude herum, durch eine Art Tiefgarage, wandern einen kleinen Pfad hoch, gelangen in ein Nebengebäude und gehen in den zweiten Stock. In einer Art Abstellkammer sitzt eine Mitarbeiterin, die irritiert von ihrem Handy aufguckt, als Daagii und ich ins Zimmer stolpern. Mit beeindruckender Ruhe scannt sie alle zehn Fingerabdrücke ein und schießt Verbrecherfotos von mir. Dann bekomme ich einen Wisch in die Hand gedrückt und werde zur Türe hinaus komplimentiert. Ich folge Daagii auf unerkenntlichen Wegen im Eilschritt zum nächsten Nebengebäude und wir kopieren mit Technik aus den 90er Jahren meinen Pass in schwarz-weiß und gestreift. Dann geht es an Hühnern vorbei zum dritten Nebengebäude, um Geld abzuheben und schließlich zurück zum eigentlichen Amt, wo Daagii mit Schwung unsre Sammlung an Formularen dem Beamten auf den Tisch knallt - geschafft! Zur Stärkung gönnen wir uns nach diesem ersten Abenteuer ein Hühnchensandwich und irgendein Getränke, dass an warme Molke mit Zucker erinnert. Da soll noch einmal jemand sagen, Behördengänge wären langweilig.

Als nächstes steht das Kennenlernen meiner Gastfamilie auf dem Programm. Wir fahren zwischen den Bergen hindurch runter ins Tal nach Ulaanbaatar. Ulaanbaatar liegt von Bergen umgeben in einem Kessel. Die Straße in die Stadt hinein ist sechsspurig und die Verkehrsregeln nonexistent. In sicherer Entfernung sieht man hohe Häuser, aber keine Hochhäuser, und der Dunst hängt tief über der Stadt. Auf die Frage, ob Ulaanbaatar morgens häufig im Nebel liegt, lacht Daagii und schnippt die Kippe aus dem Fenster. Das ist kein Nebel, das ist Smog. In der Mongolei leben auf einer Fläche, die viermal so groß wie Deutschland ist, nur rund drei Millionen Menschen. Nur gut eine halbe Millionen Menschen lebt in Häusern, der Rest lebt nach wie vor in den traditionellen Yurten und um diese im Winter warm zu halten, heizt man mit Holz und vor allem Kohle. In den vergangenen fünfzehn Jahren sind immer mehr Mongolinnen und Mongolen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand in die Stadt gezogen und weil Wohnraum knapp und teuer ist, haben sie ihre Yurten am Rande der Stadt aufgeschlagen. Im Osten der Stadt erstreckt sich über die Hügel inzwischen das sogenannte „Yurten-Viertel“. Der Smog, der in den Wintermonaten über dem windstillen Ulaanbaatar hängt, kommt durch den Rauch von verbranntem Holz und verbrannter Kohle. Zwar sind in der Stadt auch massenhaft Autos unterwegs, die alleine könnten aber niemals so schlechte Luft verschulden.
Das Gebäude, vor dem Daagii eine Weile später das Auto parkt, sieht wenig vertrauenswürdig aus. Überhaupt sieht die Gegend nicht so aus, als würde hier die gehobene Mittelschicht des Landes wohnen. Von den Fassaden bröckelt der Putz, die Fenster sehen zugig und schief aus, es gibt keine richtigen Zufahrten, Tore, Eingänge oder gar Briefkästen, Dreck und Staub überall. Die Haustüre ist eine schwere Metalltüre, die per Code aufgeht. Mit dem Aufzug fahren wir in den dritten Stock und ich habe das Gefühl, dass es meine erste und letzte Fahrt mit diesem Aufzug war. Die Wohnungstüre macht uns Aza, meine Gastmamma, auf und hinter ihr spitzt mein kleiner Gastbruder (2) neugierig hervor. Mein älterer Gastbruder (12) hält sich schüchtern im Hintergrund. Aza und die beiden Jungs sind wie im Sommer mit kurzen Klamotten gekleidet - bei der Hitze, die mir aus der Wohnung entgegenschlägt, bin ich wenig verwundert. Zur Begrüßung gibt es Gemüsesuppe mit Huhn und Reis und dazu Tee. Eigentlich war der Plan meine Sachen nur kurz abzuliefern und dann noch ins Büro der Sprachschule zu fahren, damit ich alle kennenlernen kann. Durch die Wärme und das Essen bin ich jedoch so erschlagen, dass Daagii kurzerhand den Plan ändert und mir Schlaf und ein entspanntes Wochenende zum Eingewöhnen verordnet. Nach drei Stunden Powernap bin ich pünktlich zum Abendessen wieder auf den Beinen, quatsche mit meinem Gastpappa Amar und bekomme einen Becher selbstgemachten Wodka aus Kuhmilch für die Gesundheit in die Hand gedrückt. Der Wodka schmeckt für meinen Geschmack etwas zu sehr nach Kuhstall und dass er mit einem Schluck heißen Wasser und einem Esslöffel Öl serviert wird, macht ihn nicht unbedingt reizvoller. Aber hey, es ist gut für die Gesundheit, also runter damit!
Die Freude, sich nach einem anstrengenden Tag entspannt ins Bett fallen zu lassen, hat sich bei meinem Mittagsschlaf schon aufgelöst. Die Ansprüche in der Mongolei an eine Matratze scheinen noch Relikte aus der Nomadenzeit zu sein, denn was man hier euphemistisch Matratze nennt, ist eine Kriegserklärung an Rücken, Schultern und Hüfte. Mit viel gutem Willen beim Messen ist das Exemplar in meinem Zimmer etwa vier Zentimeter dick.

Samstag, 19. Januar
Nach einem langsamen Start bin ich mit meiner Gastfamilie in Ulaanbaatar unterwegs. Zuerst fahren wir ins Jurten-Viertel und holen in einem Hinterhof einen Sack irgendeiner Sorte Fett ab, den wir dann durch den Autodschungel und das Gehupe hinweg zurück in die Stadt bringen und bei Verwandten von Amar abliefern. Im Jurten-Viertel reicht uns eine verhutzelte alte Frau Beton-Quark, eine Süßigkeit aus getrocknetem und gesüßten Quark, durchs Autofenster und so haben wir für den folgenden Stau in der Stadt Proviant. Auf meine laut ausgesprochene Idee, mal mit der Kamera durch das Yurten-Viertel zu ziehen, ernte ich verwirrte und sehr verängstigte Blicke von Aza und Amar, die von einer dringenden Empfehlung begleitet sind, dort nicht hinzugehen, falls mir mein Leben lieb ist. Die Armut im Jurten-Viertel ist hoch und Exoten sind selten gesehen. Dazu kommen viele Menschen, die sich die Welt mit Wodka schön trinken und Diebe, die an allen Ecken rumhängen. Das Vorhaben ist also für’s erste auf Eis gelegt. Nach diesem Ausflug liefern wir den Großen in seiner Sprachschule ab und fahren weiter zum Einkaufen. Ich habe befürchtet, dass ich ohne Aza oder Amar nicht einkaufen gehen kann, weil ich kein Kyrillisch und damit auch kein Mongolisch lesen kann, geschweige denn wüsste, was sich hinter den Wörtern verbirgt, wenn ich sie lesen könnte. Welch unbegründete Sorge. Der Export deutscher Waren in die Mongolei scheint lukrativ zu sein, denn ich könnte meinen gesamten Einkauf mit gut&günstig und Alnaturaprodukten tätigen. Verrückt. Auch die Edeka Eigenmarke und ein paar andere deutsche Marken findet man hier im Regal. Bei knapp 200.000 Menschen in Ulaanbaatar, die wenigstens ein bisschen Deutsch sprechen können, müssen sich die Hersteller nicht einmal die Mühe machen, die Etiketten zu übersetzen und so steht eben das feine westfälische Pumpernickel von Alnatura im Regal. Was ich jedoch absolut nirgendwo finden kann, sind Kaffeefilter. Meinen morgendlichen Kaffee koche ich also im Topf und genieße den letzten Schluck Kaffee mit einer Portion Kaffeesatz.

Sonntag, 20. Januar
Nach der zweiten Nacht in meinem neuen Bett bin ich an einem Punkt, an dem die blauen Flecken an der Hüfte (vermutlich) nicht mehr größer und die Schmerzen nicht mehr stärker werden können. Und müde bin ich auch. Ich finde auf dieser „Matratze“ als Seitenschläferin einfach keine angenehme Schlafposition. Noch fünf Nächte und ich kann direkt auf Betonboden schlafen! Früher habe ich gesagt, wenn man nur müde genug ist, kann man überall schlafen. Ich möchte diese Aussage nun gerne zurückziehen.
Zum Mittagessen kommen Azas Bruder und dessen Frau. Es gibt Rindfleisch, das lange mit  ungeschnittenem Gemüse im Topf gekocht wurde. Am Ende hat Aza einen Teig aus Mehl und Wasser in den Topf gegeben, aus dem eine Art gekochte Pfannkuchen wurden. Der Tisch in der Küche ist zu hoch, um daran richtig zu sitzen, weswegen alle darum herum stehen. Jeder hat ein Brett vor sich, um das Fleisch zu schneiden - der Rest wird mit den Händen erledigt. Man zerkleinert das Gemüse (mehr oder weniger) gekonnt mit den Händen, nimmt dann ein Stück Pfannkuchen, rollt Fleisch und Gemüsestücke darin ein und tunkt das ganze in die Brühe. Noch ein Schluck Brühe aus der Schüssel hinterher und weiter geht’s. Als ich fertig bin, schaue ich Azas Bruder zu, wie er mit Fingern, Zähnen und Messer den Rinderwirbel von allem, was kein Knochen ist, befreit. Beeindruckend. In Sachen Fleisch kann man ihm keinen verschwenderischen Lebensstil vorwerfen…

Die Rückseite des mongolischen Parlamentes vom Sukhbaatar Platz aus. In der Mitte sitzt (natürlich) Chinggis Khan!

Nachmittags verschwindet die Familie zu Verwandten von Amar und ich genieße die Ruhe. Obwohl meine Gasteltern es mir mehr oder weniger verboten haben, ziehe ich am späten Nachmittag eine erste Runde mit meiner Kamera um die Häuser der Nachbarschaft. Fazit: weder mein Handy, noch die Optik meiner Kamera mögen die Kälte. Schade, ich finde es eigentlich sehr angenehm!
Am nächsten Tag wird für mich das Arbeitsleben beginnen. Nachdem ich drei Tage ohne Kontakt zu Leuten in meinem Alter verbracht habe, freue ich mich sehr, dass es nun endlich losgeht!




Liebe Grüße aus Ulaanbaatar

Mia

Kommentare

  1. Richt gut geschrieben. Das klingt ja alles sehr abenteuerlich! Bin gespannt, was noch so auf dich wartet.

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    1. Danke, lieb von dir! :) Am Wochenende nimmt mich eine Arbeitskollegin mit in die Stadt, das verspricht auch wieder sehr abenteuerlich zu werden...

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