#9 Reisegruppe Power-Prius II

Bevor ich in die Mongolei geflogen bin, hat die ein oder andere Person den Kopf geschüttelt. Sechs Monate, das ist schon eine ganz schön lange Zeit, haben sie gesagt. Ich habe genickt und gesagt für euch vielleicht. Für mich wird die Zeit wie im Flug vergehen
Und dann saß ich hier die ersten sechs Wochen am anderen Ende der Welt (naja, also fast...) und die Zeit ist hat vieles gemacht, aber gerannt ist sie nicht. Eigentlich ist sie in einem ganz angenehmen Tempo verstrichen. Alles, was ich bis dorthin erlebt habe, habe ich in Echtzeit erlebt. Die Ereignisse haben sich nicht überschlagen und ich hatte genug Zeit, alle Erlebnisse zu würdigen und sicherzugehen, dass die kleinen Momente, die alles so viel schöner machen, nicht überrollt werden und in Vergessenheit geraten. 
Nächste Woche bin ich drei Monate in der Mongolei - Halbzeit also - und es ist genau das passiert, was sich manch einer in der Heimat gewünscht und ich gefürchtet habe: die Zeit rennt. 
Das Leben ist bekanntlich immer ein Stück einfacher, wenn man jemanden hat, dem man den schwarzen Peter zustecken und die Schuld in die Schuhe schieben kann. Genau deswegen habe ich mich entschieden im Fall der rennenden Zeit nicht dem Leben die Schuld zu geben, sondern Menschen dafür verantwortlich zu machen.

Liebe Leo, liebe Melle, hiermit überreiche ich euch offiziell und von ganzem Herzen den schwarzen Peter! 


Die ersten Tage nach unserer Rückkehr von dem ereignisreichen Wochenende im Ger-Camp schwelgen wir in Erinnerungen und lachen herzlich über Bilder und versteckte Nachrichten in Tagebüchern, die wir über die Woche noch finden. Spätestens am Mittwoch kommt aber die Frage auf, was wir am kommenden Wochenende unternehmen. Leos Tage in der Mongolei sind gezählt und wir sind uns einig, dass unser erster gemeinsame Ausflug aufs Land nicht der letzte gewesen sein soll. Der Plan ist dem des vergangenen Wochenendes sehr ähnlich: Wir schnappen uns den Power-Prius, fahren in ein Ger-Camp im Terelj Nationalpark, genießen die Natur und reiten aus. Diesmal aber auf Kamelen, daran wird uns niemand hindern - nicht einmal die mongolische Kommunikation. Während der Woche überschlagen sich die Ereignisse und es flattert mehr als ein Grund zum Feiern ins Haus. Mit den frohen Botschaften kommen aber auch die ersten Zweifel, ob man am Tag nach einer mongolischen Feier wirklich aufs Land fahren möchte und selbst wenn man möchte, ob man das überhaupt kann. Vorsorglich schieben wir die Abreise auf den späten Samstagnachmittag. Der Freitagabend kommt und hinterlässt folgende Puzzleteile, mit denen man die 12 Stunden zwischen 17 Uhr am Freitagnachmittag und 5 Uhr am Samstagmorgen zu einem fast vollständigen Bild zusammensetzen kann: 

Tischkante - Salatsoße - 17. Stock - Bier - Liebeserklärung - Jackendrama - Taxi - Jack Daniel's - politische Diskussionen - Kicker - Freigetränke - Taxi - Lippenstift - 30.000 Tugrig - Schlager - Telefonate - Kroketten - Reinhold Würth - MINT Club - Stromausfall - Wodka - Sojasoße - polnischer Abgang - Ring of Fire - Wein - Taxi - Sprachnachrichten 

Die hastig einberufene FaceTime-Konferenz am Samstagmittag ergibt schnell, dass wir an diesem Tag definitiv nicht mehr ins Auto steigen werden und lieber am Sonntag rekonvalesziert zu einem Tagesausflug in den Terelj Nationalpark fahren. 


Am Sonntagmorgen treffen wir uns also einmal mehr am Nadaam Center, kaufen Proviant ein dessen Ausmaß vermuten lässt, dass wir uns mehrere Wochen in einer einsamen Berghütte verschanzen wollen, und steigen dann in den lieb gewonnenen Power-Prius. Der Terelj Nationalpark liegt keine 70 Kilometer nordöstlich von Ulan Bator und im Gegensatz zu der Straße Richtung Norden ist diese sogar angenehm zu fahren. Wo wir hinfahren möchten wissen wir bei der Abfahrt noch immer nicht genau, aber das Straßennetz lässt uns auch nicht viel Auswahl und so verfallen wir schnell in den bekannten Trott - Leo fährt, ich lotse und Melle ist für Verpflegung und Musik zuständig. Nach einer Viertelstunde sind wir aus der Stadt raus, das Auto hat keinen weiteren Kratzer und Schokolade und Chips sind bereits für einen ausgeglichenen Süß-Salzig-Haushalt geöffnet. 
Eine gute Stunde später parken wir den Power-Prius vor 100 Monks Cave. Die Geschichten rund um diese Höhle sind zahlreich und sehr unterschiedlich. Die wohl gängigste ist, dass sich Ende der 1930er Jahre 100 Mönche vor religiösen Unterdrückern in der Höhle versteckt haben und so überleben konnten. Nach einer kurzen Klettertour sind Melle, Leo und ich uns aber sicher, dass irgendjemand beim Aufschreiben der Legende wohl doppelt gesehen und aus einer 10 eine 100 gemacht hat. Wir bleiben ein bisschen in der Höhle auf den eiskalten Steinen sitzen und warten darauf, dass sich unsre Augen an die Finsternis gewöhnen. Als erstes sehen wir zaghaft Lichter in der Dunkelheit tanzen, dann erkennen wir langsam die Opfergaben zwischen den Kerzen rund um den Ovoo, den typischen Steinhaufen an religiösen Orten. Keksgebäck, Geld, Khadags und Schalen mit Milchtee und Wodka. Als wir ein paar Minuten später wieder aus der Höhle krabbeln sind wir mindestens so kalt wie das Gestein und so sitze wir noch ein bisschen in der Sonne vor der Höhle, lassen unsre Finger wieder auftauen, unsre Augen sich wieder ans Tageslicht gewöhnen und klettern dann die Felsen wieder hinunter.


Melle im Eingang von 100-Monks-Cave

Unseren nächsten Stopp kennen wir noch nicht, als wir wieder ins Auto steigen und losfahren. Einfach mal die einzige Straße weiterfahren und abwarten, wo sie uns hinbringt. Wir fahren durch den Nationalpark, an kleinen Ger-Camps und zukünftigen Luxushotels, an kleinen Pferdeherden und einer riesigen Schildkröte vorbei und stehen früher als gedacht am Ende der Straße. Den kurzen Gedanken mit dem Power-Prius off-road zu fahren verwerfen wir schnell wieder. Also gut, Ende im Gelände, U-Turn und dann wieder auf bekannten Wegen zurück.
Nicht viel später parken wir das Auto am Melkhii Khat, dem Schildkrötenfelsen. Draußen erwarten uns strahlend blauer Himmel, Sonne, Wind und fast 10 Grad. Trotzdem sitzen wir im Auto, können uns nicht aufraffen die Gegend zu erkunden und beschließen deswegen erst einmal zu Mittag zu essen. Es gibt Brot mit Käse. Naja, ehrlicher Weise muss man sagen, dass es eher Käse mit Brot gibt, aber was für eine Rolle spielt das schon. Melle ist die erste, die sich von der Wärme und Gemütlichkeit des Autos losreißen kann und die Türe aufstößt. Leo und ich seufzen und tun es ihr gleich. Wir stehen also vor einer riesigen steinernen Schildkröte, davor sind Pferde, Kamele und Greifvögel und weiter hinten im Gestrüpp sieht man Kühe, Schafe und Ziegen stehen. Was für ein Zirkus. Es fehlen also nur noch wir drei Mädels und schon ist das Ensemble komplett. Obwohl der Schildkrötenfelsen eine der großen Attraktionen des Terelj Nationalparks ist, haben wir den Felsen für uns alleine und ich kann nach Herzenslust darauf herumklettern. Den anderen beiden behagt die Kletterei eher weniger und so lässt man mich machen, kriegt ein bisschen die Krise, weil ich lediglich meine alten ausgetretenen Vans mit Stricksocken trage, lacht, schüttelt den Kopf, denkt sich den ein oder anderen Spitznamen für mich aus und wartet darauf, dass ich mich wieder einkriege.


Melkhii Khat - Der Schildkrötenfelsen

Sicherheit hat höchste Priorität - deswegen trage ich Vans!

Lust auf Pferdereiten, Kamelreiten oder Greifvögel halten? Dann sind die richtigen Ansprechpartner!

Der nächste Programmpunkt ist das langersehnte Kamelreiten. Wir sind uns einig, dass wir eigentlich keine Lust auf diese klischeehaften Touriaktionen haben, aber bei den Kamelen werden wir dann doch schwach und handeln immerhin einen Deal aus, bei dem wir nicht nur einmal im Kreis geführt werden. Während mein Kamel und ich uns auf Anhieb wunderbar verstehen, sucht sich Melle den größten Dickkopf weit und breit aus und kann nach dem Ritt mit gutem Recht behaupten, dass sie schon einmal Kamelrodeo gemacht und überlebt hat.


Guten Freunden gibt man ein Küsschen - beste Freunde isst man auf!


Früher am Tag haben wir schon ein sehr cooles Bild mit dem lieb gewonnenen Power-Prius gemacht. Aber dieses Bild stellt alles in den Schatten. Macht euch bereit, unsre Kamele und wir sind am Start!




»Hey, sag mal wollen wir zusammen ein Selfie machen? Ein Kamelie quasi?« [...] »Oh ich, oh, das wusste ich nicht. Na klar, hier, guck mal, das ist mein Handy!« [...] »Haha, ja ich weiß. Menschen, du sagst es!« [...] »Ich habe mich auch gefreut dich kennenzulernen, das war wirklich nett.« [...] »Das ist ja lieb, ja, lass uns das machen, das ist eine schöne Erinnerung!« 

*Kamelie* 



Als wir eigentlich schon auf dem Weg nach Hause sind, beschließen wir spontan noch an einer besonders schönen Ecke anzuhalten und uns die Umgebung anzugucken. Was eigentlich eine kleine Runde Füßevertreten werden sollte, ufert in einen längeren Spaziergang über die Hügel und um die Berge herum aus und niemand ist böse darum. Im Gegenteil, es ist ein wunderbarer Abschluss des Tages im Terelj Nationalpark


Wenn man die Schnauze von Menschen gestrichen voll hat und feststellen muss, dass Steine die einzig wahren Freunde sind. 



Bevor wir zurück in die Stadt fahren, statten wir dem Chinggis Khan Denkmal noch einen Besuch ab und machen große Augen, als wir die Eintrittspreise für Touristen im Vergleich zu denen für die Einheimischen sehen. So wenig es 2/3 von uns stört, dass wir das Dreifache bezahlen sollen, so sehr regt sich unser anderes 1/3 auf: 
Waaaas, das Dreifache? Das ist mega dreist, ich bezahl doch nicht das Dreifache von dem, was die hier zahlen müssen. Alter, das ist echt voll die Diskrimierung! [...] Das Dreifache!!
Der zaghafte Hinweis, dass wir genau den gleichen Betrag für den Eintritt im Club am Freitagabend bezahlt haben stößt auf taube Ohren und so lachen wir, erklären, dass wir die ewig lange Treppe eh nicht hochlaufen wollen, haken uns bei unsrem erbosten Drittel unter und genießen lieber den Anblick, wie die Sonne hinter dem riesigen silbernen Reiter hervor blitzt und alles in goldenes Licht taucht. 



Man beachte links am Bildrand den Menschen, der neben dem Denkmal steht. Nur, damit man die Größe dieses Denkmals einordnen kann...

Die Reisegruppe

Am frühen Abend fahren wir einmal mehr im Sonnenuntergang nach Ulan Bator und während von irgendeinem Handy Musik durch das Auto dudelt, wird uns nach und nach bewusst, dass das der vorerst letzte Ausflug zu dritt war. Die Tage sind gezählt, bald ist die erste aus unserer Runde wieder auf dem Weg nach Deutschland - wie die Zeit rennt. 

Bayartai und liebe Grüße 
Mia

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