#5 Tsagaan Sar für Anfänger

Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich als Zwölfjährige gefragt habe, warum Ostern eigentlich in jedem Jahr zu einer anderen Zeit gefeiert wird. Die Erklärung, dass Ostersonntag immer der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond ist, war damals sehr enttäuschend und ich habe mich gewundert, warum das Christentum nur alles immer so kompliziert machen muss.
Nun bin ich in der Mongolei. Und ich bin doppelt so alt wie damals. Und wieder frage ich mich, warum religiöse Feste immer zu anderen Zeiten gefeiert werden. Anlass der Frage ist das Datum für Tsagaan Sar, das Fest der weißen Mondes, das mongolische Neujahrsfest. Nach dem mongolischen Lunisolarkalender wird Tsagaan Sar einen Monat nach dem ersten Neumond nach der Wintersonnwende gefeiert, was Ende Januar bis Anfang Februar der Fall ist. Vorbereitet wie ich auf diese Reise war, wusste ich bis zu meiner Ankunft nichts von Tsagaan Sar, geschweige denn dem Ausmaß der Festivität.
Nachdem ich mich von fünf Tagen und vier Nächten mit 21 Stunden Schlaf in einem kleinen Haus, das ich mir mit elf Menschen geteilt habe, wieder halbwegs erholt habe, folgt hiermit also Tsagaan Sar für Anfänger:

Die Wochen vor Tsagaan Sar
Meine Studis in der Sprachschule sind alle recht fit, wenn es um das Lesen, Hören und Verstehen von Deutsch geht. Womit sich allerdings alle schwer tun, ist das freie Sprechen, wie man es aus Alltagssituationen kennt. Zu Beginn es Unterrichts üben wir uns also allesamt in Smalltalk. Nachdem meine erste eigene Unterrichtsstunde direkt nach dem Wochenende stattfindet, frage ich in die Runde, was sie denn am vergangenen Wochenende so getrieben haben. Ich habe dem Gesicht eines Schülers nach mit wüsten Schlägereien, den Fingernägel einer Schülerin nach mit endlosen Sitzungen bei der Maniküre und den verpennten Augen vieler anderer nach mit Berichten von exzessiven Parties gerechnet. Stattdessen berichten alle, bis auf einen, der war tatsächlich Feiern und in eine ordentliche Schlägerei verwickelt, dass sie über das Wochenende den Frühjahrsputz gestartet haben und massenweise Buuz (mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, die gedämpft serviert werden) vorbereitet haben. Ich frage nach, was denn ‚massenweise‘ bedeutet und bekomme '1500 bis 2000' als Antwort. Ich schreibe die Zahl an die Tafel, streiche eine Null weg und meine, dass sie wohl 150 meinen. Nö, 1500 ist richtig. Ich ziehe eine leicht verwunderte, aber beeindruckte Fratze und lasse die Zahl an der Tafel stehen. Mir wird erklärt, dass man gerne mit einem frischen Gefühl und ohne Altlasten in das neue Jahr starten möchte und deswegen das Haus so gründlich putzt. Gut, alles klar, das klingt verständlich, das kann ich gut nachvollziehen. Die 1500 Buuz passen allerdings noch nicht ins Bild. Khorolsuren erklärt mir daraufhin, dass während der dreitägigen Tsagaan Sar Feierei alle Verwandten zu Besuch kommen. Also nicht nur die näheren Verwandten, sondern alle. Um das logistisch etwas einfacher zu gestaltet, feiert man deswegen auch einfach beim Familienältesten und weil das alle so machen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Großteil einer Familie über Tsagaan Sar am selben Ort ist, recht groß.
In der Woche vor Tsagaan Sar ist die Sprachschule wie leergefegt, die Kurse sind, wenn überhaupt, nur noch halb besetzt. Ich frage meine Chefin Doljoo besorgt, ob alle unzufrieden mit meinen Kursen sind, Doljoo winkt aber nur lachend ab. Bald ist Tsagaan Sar, alle sind am Einkaufen, Vorbereiten und auf dem Weg zu ihren Familie. Alles klar, dann fahre ich eben in ein Wellness Resort nach Övörkhangai und entspanne mich auch.

Bituun, der Abend vor Tsagaan Sar.
Egal, wie entspannt ich nach den Tagen im Khan Khujirt war, jetzt bin ich es nicht mehr. Die Menschen, die in den vergangenen Tagen in Ulaanbaatar waren, haben zwar keine frische Landluft schnuppern können, haben dafür aber den letzten großen Ansturm auf die Geschäfte vor Tsagaan Sar vermeiden können. Weil wir grade in der richtigen Gegend sind, fahren wir auf dem Heimweg vom Khan Khujirt direkt noch einkaufen. Weit kommen wir allerdings nicht. Der Parkplatz ist so voll, dass wir gar nicht erst darauf gelassen werden. Das einzelne Gehupe ist nicht mehr voneinander zu trennen und man hört nur noch ein durchgehendes Hupen von den unzähligen Autos, die endlich auch auf den Parkplatz möchten. Eine halbe Stunde später können wir im letzten Winkel einen Parkplatz ergattern und gehen in das Einkaufszentrum hinein. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, habe meine Familie augenblicklich im Gewusel zwischen all den anderen Menschen, die mir nur bis zum Hals gehen, verloren und möchte gerne umgehend rückwärts wieder aus dem Laden raus. Kann ich aber nicht, das Schild über meinem Kopf sagt 'One Way'. Ich erkenne den Kleinen am Geheule und folge dem vertrauten Geräusch zum Supermarkt. Bereitwillig erkläre ich, dass ich mich schon einmal an der Kasse anstellen werde, während die Familie die scheinbar unendlich lange Einkaufsliste abarbeiten soll. Ich finde eine Kasse, die der Großteil der Menschen wohl übersehen hat und schöpfe wieder Hoffnung, dass wir doch noch vor Tsagaan Sar aus der Einkaufshölle rauskommen. Eine Stunde später sitzen alle fix und fertig wieder im Auto und es geht nach Hause. Halleluja. Und ich dachte, einkaufen am 24.12 wäre reinster Selbstmord…
Meine Gastoma hat mich gefragt, ob ich für die Feiertage ein typisch deutsches Gericht machen könnte. Nachdem es traditionell an Tsagaan Sar Kartoffelsalat gibt, überlege ich mir eine andere Kartoffelsalatvariante zu machen und für die muss ich montags noch einkaufen gehen. Kartoffeln, Speck, Thymian, Majoran, Olivenöl, Hüherfond, Weißweinessig, Senf, Salz und Pfeffer. Klingt machbar. Ich ziehe los und komme viel später als geplant ohne Kräuter, Hühnerfond und Weißweinessig, dafür mit unglaublich schlechter Laune wieder nach Hause. Dass in diesem verdammten Land aber auch niemand, absolut niemand, Englisch spricht und einem weiterhelfen kann, wenn für einen selbst Kyrillisch noch mehr nach Chinesischen Schriftzeichen als nach lateinischen Buchstaben aussieht. Und warum hat man bei den Milchersatzprodukten die Auswahl zwischen Hafer- Soja- und Reismilch (mit und ohne extra Calcium) von drei verschiedenen deutschen Biomarken, aber im Kräuterregal findet man nur Dill und Petersilie? Und warum gibt es genau eine Sorte Senf, aber ein ganzes Regal voller aaaaangeblich verschiedener Reissorten? Und wir sprechen hier von der Auswahl einer der besten Supermärkte. „Exotisch“ kochen macht hier wirklich nur sehr wenig Freude.
Nachmittags fahren Aza, die Jungs und ich los, sammeln nach 40 Minuten, die wir für die drei Kilometer durch die Stadt brauchen, Amar bei der Arbeit ein, holen uns was zu Essen für die Fahrt bei Pizza Hut und reihen uns in den schier endlosen Stau Richtung östlichen Stadtausgang ein. Die beiden Jungs sitzen satt und zufrieden neben mir auf der Rückbank und noch bevor wir an der riesigen Statur von Chinggis Khan 50 Kilometer außerhalb von Ulaanbaatar vorbeigefahren sind, schlafen beiden. Amar hat seine Lieblingsplatte von einem mongolischen Jazz Künstler aufgelegt und so gucke ich durch mein vereistes Fenster nach draußen, sehe eine um die andere Pferdeherde vorbeiziehen und genieße die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die mir ins Gesicht scheinen, bevor auch ich erschöpft einschlafe.







Als wir bei Azas Eltern ankommen, ist es schon acht Uhr am Abend. Gemeinsam richten wir das Abendessen her und sitzen wenig später zusammen am Tisch, um Bituun, den dunklen Mond, zu feiern. Es gibt die erste große Runde Buuz, Kartoffelsalat, kalten Pferdeaufschnitt, eingelegtes Gemüse und die extra für die Tsagaan Sar Feierlichkeiten angerichtete ganze Schafshälfte wird von Azas Vater als Familienältester angeschnitten. Auf dem Tisch steht auch schon die traditionelle Pyramide aus Keksgepäck, die mit diversen Arten getrockneter und süßer Milchprodukte verziert ist. Die Pyramide ist immer aus einer ungerader Anzahl an Stockwerken gebaut und hat im Inneren verzierte Keksplatte, deren Daseinsberechtigung ich aber (noch) nicht kenne.
An Bituun soll man sich der Tradition nach richtig satt essen. Ein Magen voller guter Speisen bedeutet, dass einen ein neues Jahr voll mit Glück, Gesundheit und alle den guten Dingen erwartet. Während Tsagaan Sar in den nächsten drei Tagen mit der ganzen Sippschaft gefeiert werden, bleiben die Familien an Bituun im engsten Familienkreis, gucken gemeinsamen auf das fast vergangene Jahr zurück und lassen es entspannt ausklingen.
Als der Großteil schon im Bett liegt, steht Aza noch in der Küche, rollt eine riesige Schüssel Teig in hauchdünne Fladen, legt sie zum Trocknen im Wohnzimmer über die Sofas, räumt dann das schier unermessliche Chaos in der Küche auf und zieht anschließend die halb getrockneten Teigfladen über die Herdplatte, schneidet sie in dünne Streifen und friert sie ein. Mongolische Nudeln! Ich geselle mich zu ihr in die Küche, helfe beim Ausrollen und wir quatschen über Gott und die Welt. Um halb 2 liege ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, versinke regelrecht in den weichen Kissen und sehne mich ein bisschen nach meinem Bett in Ulaanbaatar.

Tsagaan Sar - Tag 1
Wenige Stunden später wache ich auf, weil in der Küche jemand sachte mit Töpfen und Geschirr hantiert und der Geruch von Milchtee langsam ins Wohnzimmer zieht. Ich drehe mich noch einmal kurz um und schlafe wieder ein. Um sieben Uhr werde ich von einer riesigen Menge Fell geweckt, die keine zwei Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist und mich mit freudigem Lachen anstrahlt - der Kleine hat schon sein traditionelles Deel aus flauschigem Fell und die passende Mütze an! Ich gucke auf die Uhr, erschrecke, dass es schon so spät ist und ich entspannte zwei Stunden verschlafen habe, springe aus dem Bett und sprinte barfuß durch die Küche ins Bad. Das Bad ist im Anbau und der Anbau wird nicht geheizt. Spätestens jetzt bin ich wach und meine Füße sind innerhalb von drei Sekunden nur noch in Erinnerungen vorhanden. Zehn Minuten später stehe ich in der Küche, sehe mehr erschlagen als erwacht aus und lasse mir vom Großen mit den verdammten Knöpfen an meinem Deel helfen, das ich mir vergangene Woche extra für den Anlass gekauft habe. Während es für Menschen aus anderen Kulturen in Norwegen zum Beispiel unhöflich ist, die traditionelle Tracht zum Nationalfeiertag am 17. Mai zu tragen, ist es in der Mongolei genau umgekehrt. Trotzdem steche ich raus - ich trage zu meinem kurzärmeligen Deel Jeanshose und Doc Marten’s und zum Aufwärmen auch erst einmal noch eine Sweatshirtjacke. Immerhin die farbliche Abstimmung passt! Während ich im Wohnzimmer friedlich geschlafen habe, hat meine Gastoma schon Milchtee gekocht, Kartoffelsalat gemacht, Buuz gedämpft, Reis mit Rosinen angerichtet und sämtliche andere Sachen vorbereitet. Ich wollte ihr eigentlich dabei helfen und habe ein schlechtes Gewissen.





Um halb acht versammelt sich die Familie im Wohnzimmer, alle festlich in Deel gekleidet, und begrüßen sich gegenseitig im neuen Jahr. Traditionell legen sie sich dabei den Khata, einen himmelblauen Schal, dessen Farbe den ewig blauen Himmel über der Mongolei symbolisiert, über die vor sich ausgestreckten Arme, gehen auf ihren Gegenüber zu und sagen 'amar beina uu' (Амар байна уу) - 'wirst du friedlich leben?'. Dann legt die ältere Person ihre Unterarme auf die der jüngeren, nimmt deren Kopf behutsam in ihre Hände und zieht links und rechts einmal leicht den Geruch der Person ein. Durch das Halten der Unterarme verspricht die jüngere Person der älteren ihre Unterstützung und erweist ihr den Respekt. Meistens werden nur die Familienältesten so begrüßt, bei Gleichaltrigen ist es von Familie zu Familie unterschiedlich und wenn man einmal nicht weiß, ob die Personen einem gegenüber jünger oder älter ist, legt man einen Arm eben auf den der anderen und packt den anderen untendrunter. Ehepartner begrüßen sich übrigens nicht auf diese Weise.
Ich halte mich bei dieser Zeremonie bedeckt im Hintergrund und fotografiere etwas. Später kommen meine Gastgroßeltern auf mich zu und begrüßen mich ebenfalls so - ich bin mit Schal und Gesten etwas überfordert, fühle mich aber geschmeichelt. Immerhin begrüßt man nur Familienmitglieder mit dem zolgokh.


Im Anschluss an die neujährliche Begrüßung frühstücken alle gemeinsam. Wenn die Männer später rausgehen, um den ersten Sonnenaufgang des neuen Jahres anzugsehen, bleiben die Frauen zu Hause, decken den Frühstückstisch ab und räumen auf.
Zusammen mit Aza, Amar und den beiden Jungs fahre ich bis zum späten Nachmittag durch den Ort und besuche sämtliche Mitglieder der nahen und fernen Verwandtschaft. Der Ablauf ist immer gleich. Man kommt an, begrüßt Hausherr und / oder Hausherrin mit dem zolgokh, bekommt Milchtee, Buuz und manchmal auch Airag (vergorene Stutenmilch) gereicht und noch den ein oder anderen Wodka dazu. Der Hausherr schneidet außerdem Stücke von der riesigen Schafshälfte ab und reicht die an die Gäste. Wenn man etwas gereicht bekommt, steht man auf, fasst mit der linken Hand den eigenen rechten Unterarm und nimmt das, was man eben gereicht bekommt, entgegen. Als wäre Wodka morgens um zehn Uhr nicht schon genug, muss man dabei auch noch mitzählen. Der erste Wodka bringt Glück, der zweite bringt all die schlechten Dinge, der dritte wieder Glück, der vierte Unglück, der fünfte schöne Dinge, … Mit einem Wodka ist man also gut bedient, bekommt man jedoch den zweiten Wodka vom Hausherren gereicht, kann man sich mental schon einmal auf den dritten einstellen.

Hier ein Ausschnitt aus meinem Wodka-Liveticker:
 

10:02 Uhr — der erste Wodka ist getrunken. Ich bekomme Applaus, weil ich ihn in einem Zug geleert habe, was man hier wohl nicht macht. Ich stutze, verfluche meine Jugend und notiere mir das gedanklich.
 

10:33 Uhr — der zweite Wodka ist getrunken. Ich zweifle allerdings stark an, dass die kleinen Schälchen, aus denen der Wodka getrunken wird, nur 2cl enthalten.
10:58 Uhr — der dritte Wodka ist getrunken. In Anbetracht der Tatsache, dass wir noch reichlich Familien heute besuchen, habe ich mich an der Essensfront sehr zurückgehalten. Nachdem ich aber das Gefühl habe, dass mir die drei Wodka schon ganz schön zu Kopf gestiegen sind, erhöhe ich die Buuz-Schlagzahl.
 

11:47 Uhr — die erste und definitiv letzte Schale vergorene Stutenmilch ist getrunken. In Deutschland haben mich alle vor dem Gesöff gewarnt, probieren wollte ich es trotzdem. Und außerdem ist es respektlos, die gereichte Schale halb voll wieder zurückzureichen…
 

12:44 Uhr — der vierte Wodka ist getrunken.
 

13:13 Uhr — der fünfte Wodka ist getrunken.
13:24 Uhr — der sechste Wodka ist getrunken und ich habe das signierte Album eines sehr bekannten mongolischen Sängers geschenkt bekommen.
 

13:47 Uhr — der siebte Wodka ist getrunken.
 

13:52 Uhr — der achte Wodka ist getrunken. Ich habe aufgehört zu zählen, aber die Anzahl der Buuz ist in jedem Fall schon zweistellig, die Anzahl der besuchten Familien nähert sich auch schon fast dem Zweistelligen.
 

13:57 Uhr — der neunte Wodka ist getrunken und der dritte in den letzten zehn Minuten. Als Aza sieht, dass der Hausherr schon wieder die Wodkaflasche fixiert hat und Anstalten macht, mir den vierten und damit dann ja auch quasi zwangsläufig noch den fünften Wodka einzuschenken, steht sie auf und drängt zum Aufbruch. Danke, Aza!
 

14:33 Uhr — der zehnte Wodka ist getrunken. Ich sitze das erste Mal in einem Ger, einem der traditionellen runde Filzzelte der Nomaden, und gucke Wrestling im Fernseher, während der Kleine in den Armen seines Vaters eingeschlafen ist.

Die letzte Station auf unsrem Besuchungsmarathon fällt für mich und den Kleinen aus. Ich weiß nicht, wen die Familie besucht, aber Aza lässt durchklingen, dass es ein sehr traditionsbewusstes Familienmitglied ist, dem es nicht behagt eine Christin bei der Zeremonie dabei zu haben. Ich respektiere und akzeptiere das - was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig - und lasse mich mit dem schlafenden Kleinen zuhause absetzen. Als Aza, Amar und der Große fast zwei Stunden später nach Hause kommen, dösen der Kleine und ich auf der Couch und der Rest tut es uns wenig später gleich. Nach und nach kehrt auch der Rest der Familie wieder nach Hause zurück und nachdem alle einen Powernap gemacht haben, wird eine große Portion Buuz und Rindfleischsuppe zum Abendessen aufgetischt und der Tag ausklingen gelassen. Willkommen im Jahr des Schweines!

Tsagaan Sar - Tag 2
Als mein Wecker klingelt, ist es halb sechs. Ich stelle fest, dass ich im Bad meine Atemluft sehen kann, beeile mich mit dem Fertigmachen sehr und stehe wenig später mit meiner Gastoma in der Küche. Heute sind wir in der Gastgeberrolle unterwegs und nachdem gegen neun Uhr die ersten Gäste erwartet werden, wird ordentlich in die Tasten gehauen. Seite an Seite stehen wir da und machen Kartoffelsalat, während auf dem Herd schon Milchtee in einem 5-Liter-Topf fröhlich vor sich hin köchelt. Anstelle von magerem Speck brate ich Bacon an, anstelle von Hühnerfond lösche ich die Zwiebeln mit Wasser ab und würze mit Salz und Pfeffer, anstelle von Weißweinessig rühre ich die Soße mit Essiggurkenwasser an und anstelle von Thymian und Majoran kommt Petersilie in den Salat. Immerhin komme ich um die Mayonnaise herum, ohne die ein mongolischer Kartoffelsalat scheinbar nicht auskommt. Um halb sieben hängt schon ein Geruch aus Milchtee, frittierten Pilzen, Reis und gebratenem Bacon und Zwiebeln in der Luft. Dazu kommt der allzeit anwesende Geruch von sauren Milchprodukten. Mir wäre der vertraute Kaffeegeruch am Morgen lieber. Zeit zum Träumen bleibt aber nicht, die Zeit spielt gegen uns. Um kurz vor neun Uhr schneien die ersten Besucher herein und mein Tagesjob fängt an - Buuz im zweistöckigen Dämpfer aufsetzen und die Uhr auf 25 Minuten stellen.
Den Rest des Tages schmeiße ich gemeinsam mit Aza die Küche. Immerhin kann ich so meine Jogginghose anbehalten.

Aarol, die getrockneten Milchprodukte ganz oben auf der Etagere, Kartoffelsalat, Reis mit Rosinen in der Schüssel, die verzierte Gebäckpyramide im Hintergrund und das große Stück Fleisch gehören traditionell zu Tsagaan Sar. Der Rest variiert von Familie zu Familie.


Als ich mich in Gedanken schon in den weichen Sofakissen sehe, kommt der Große und fragt, warum ich die Jogginghose noch nicht gegen eine Jeans getauscht habe - wir besuchen noch Verwandte. Es ist fast neun Uhr abends.
Der Abend bei Amars ältestem Onkel ist unerwartet angenehm, die Buuz sind die besten, die ich bis dato gegessen habe und der Wodka kein billiger Fusel. Zu Tsagaan Sar haben die Männer alle eine Art Flakon aus Stein in wunderschönen bunten und bestickten Taschen bei sich. In dem Flakon ist kein Parfüm, sondern ein Pulver, das sehr angenehm riecht. Beim Zusammensitzen tauschen die Männer diese Flakons aus, indem sie ihn in die offene rechte Hand legen und den Unterarm mit der linken Hand unterstützen. Dann riecht man einmal links und einmal rechts am Verschluss und tauscht die Flakons anschließend zurück. Je weiter man seinen eigenen Flakon beim Überreichen geöffnet hat, desto besser sind die Nachrichten, die man überbringt. Ein verschlossener Flakon bedeutet, dass man schlechte Nachrichten hat. Was heute eine Tradition ist, wurde früher angewandt um ohne Worte bei der Ankunft zu berichten, was einen zum Besuch veranlasst. Die Flakons werden ausgetauscht, um Respekt und Freundschaft auszudrücken. Nachdem ich selbst keinen Flakon habe, muss ich aufpassen, dass ich beim der Übergabe immer die Handfläche Richtung Himmel gedreht habe. Anders würde es bedeuten, dass ich meinen Gegenüber nicht achte und mit bösen Absichten komme. Viele Männer gönnen sich auch hin und wieder mal eine Prise des Pulvers und schnupfen sie. Das Geniese und Gehuste, was darauf folgt, ist das reinste Spektakel. Wieder gilt aber: wenn man eine Prise angeboten bekommt, ist es unhöflich, abzulehnen. Was soll ich sagen, ich weiß wirklich nicht, was die Mongolen falsch machen. Ich muss weder husten, noch niesen. Gut, meine Nase kitzelt danach etwas, aber alles in allem mag ich den Geruch (was auch immer es ist) sehr gerne. Vielleicht mache ich es auch einfach falsch.
Amars Onkel ist begeistert von der Aufgeschlossenheit und dem Respekt, mit welchen ich den mongolischen Traditionen begegne und möchte mir diesen Respekt gerne auch entgegenbringen. Aus diesem Grund schenkt er mir eines dieser Täschchen, in welchen man den Flakon aufbewahrt, und bittet mich, dass ich mir zurück in Ulaanbaatar so einen Flakon kaufe. Wo immer ich reise, soll ich ihn mitnehmen, den Menschen, die ich unterwegs treffe, respektvoll begegnen und vom Respekt des mongolischen Volkes berichten, wenn ich den Flakon rumreiche, wie ich es nun gelernt habe. Was für schöne Worte und was für eine rührende Geste! Ich bedanke mich und verspreche ihm, dass ich das tun werde - worauf ich drei Wodka gereicht bekomme. Auf die guten Dinge in meinem Leben, Prost!





Tsagaan Sar - Tag 3
Die ersten beiden Tage braucht es meist für die Besuche der Familie, ab dem dritten Tag verschwimmen die Grenzen zwischen Familie und Freunden und jeder besucht jeden, den er halbwegs mag. Mein Gastopa, ist ein angesehener Mann im Ort und die Menge an Besuchern über den Tag enorm. Zum Glück haben Aza und ich am Tag zuvor ordentlich Kartoffelsalat produziert und so müssen nur Buuz und Milchtee über den Tag gemacht werden. Die Müdigkeit bei allen Beteiligten ist sichtbar. Die Gespräche an den Tischen sind weniger lebhaft, die Besuche kürzer.
Meine Gastoma und ich können uns nur mit Blicken, Gesten und dem ein oder anderen Wort verständigen. Was uns aber verbindet ist die Kaffeeliebe. Irgendwann am Nachmittag wirft sie mir quer durch das Wohnzimmer einen verschwörerischen Blick zu und nickt Richtung Küche. Dort zaubert sie aus irgendeinem Schrank eine Kaffeemaschine hervor und wenig später sitzen wir uns in der Küche gegenüber, trinken Kaffee und grinsen uns glücklich an. Die Wodkazählung am heutigen Tag kommt über einen einsamen Wodka am Morgen nicht hinaus. Regelrecht enttäuschend, aber zur Abwechslung auch mal ganz nett.


Tsagaan Sar - Tag 3 + 1
Nach drei Tagen ist Tsagaan Sar nun offiziell vorüber. Im Haus ist das große Aufräumen ausgebrochen und im oberen Stockwerk, wo bis auf mich alle auf einem riesigen Matratzenlager geschlafen haben, probieren Aza und ihre Schwägerin das Klamottenchaos auseinander zu dividieren. Nachdem ich dabei nicht viel helfen kann, knöpfe ich mir die Küche vor und geselle mich dann zum Rest der Bande ins Wohnzimmer. Mein Gastopa fragt mich mit seinem Sohn als Dolmetscher, wie mir Tsagaan Sar gefallen hat und wie ich es gefunden habe. Wir unterhalten uns ein bisschen und ich werde immer unruhiger. Die Flasche Finlandia Wodka steht gefährlich nahe an meinem Gastopa… Es kommt, wie es kommen muss, und ich bekomme um 9:46 Uhr von meinem Gastopa ein Schälchen Wodka gereicht. Im Gegensatz zu sonst reicht er mir aber nicht eine der unzähligen silbernen Schälchen, sondern die goldene mit der kleinen Reiterfigur am Grund. Mir wird erklärt, dass man das goldene Schälchen nur Menschen reicht, denen man ein langes und gesundes Leben wünscht. Die Zeiger stehen noch nicht auf zehn Uhr, als ich brav meinen dritten Wodka geleert habe. Mit einem Wodka für sich beendet mein Gastopa unseren Plausch und ich gehe in die Küche, um meine leichtfertig getroffene Entscheidung, heute auf das Frühstück zu verzichten, zurückzuziehen und dem Wodka in meinem Magen nachträglich noch eine Grundlage zu bescheren.

Eine traditionelle Mütze, die mein Gastopa zu seinem Deel trägt.



Bevor wir uns am frühen Nachmittag ins Auto schwingen und zurück nach Ulaanbaatar fahren, gibt es noch eine große Runde chinesische Nudel für alle. Wer weiß, ob es an der (Über-) Dosis Glutamat vom Mittagessen oder an der Erschöpfung aller Beteiligten liegt, aber die Heimfahrt ist alles andere als angenehm und entspannt. Als wir gegen sieben Uhr abends in Ulaanbaatar ankommen, fährt meine Familie noch zu Azas Oma, um ihr einen Tsagaan Sar Besuch abzustatten. Ich schnappe mir ein Taxi und fahre eine gute halbe Stunde auf die andere Seite der Stadt nach Hause. Nachdem ich dem Taxifahrer 4000 Tugrik (1,30 Euro) in die Hand gedrückt und meinen Kram in den zweiten Stock bugsiert habe, schließe ich die Wohnungstür auf und höre nichts. Ruhe. Endlich! Meine Sachen schmeiße ich im Zimmer auf den Boden und mich aufs Bett. Laptop auf, Netflix an, Kopf aus. Tsagaan Sar vorbei. Was für ein Abenteuer!


Bayartai und liebe Grüße aus Ulan Bator
Mia

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