Hey Mia, ich habe dir einen Platz im Studiwohnheim organisiert. Du musst zwar noch bis Anfang März warten, aber dein Problem ist gelöst!
-- Danke für die Lösung meines Problems, lieber Daagii, aber ich wusste nicht einmal, dass ich eines habe.
-- Danke für die Lösung meines Problems, lieber Daagii, aber ich wusste nicht einmal, dass ich eines habe.
Geben wir der Situation einen Rahmen: im Moment unterrichte ich zwei B1.1 Kurse und einen A2.1 Kurs. Die etwas schwächere B1.1 Gruppe kommt vormittags von 11 bis 13 Uhr, die andere mit zwei richtig starken Mädels kommt nachmittags von 16 bis 18 Uhr. Der letzte Kurs ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen mit Leuten, die schon arbeiten, welchen, die als Au Pair nach Deutschland wollen und welchen, die davon träumen in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten. Die drei Stunden Pause über den Nachmittag sind an machen Tagen etwas nervig. Die Zeit ist zu kurz, um etwas Anständiges zu unternehmen und zu lang, um einfach nur rumzusitzen und den Zeigern auf der Uhr beim Kreiseln zuzusehen. Meist gehe ich mit Leuten aus dem Büro Mittagessen und verziehe mich danach in ein Café zum Lesen, Schreiben und Tagträumen oder Schlendere ohne Plan und Ziel durch die Stadt. An dem Nachmittag, als Daagii mit den Wohnheim-Neuigkeiten ins Büro schneit, habe ich mich für aktives Gammeln im Büro entschieden. Der Kleine in meiner Gastfamilie hat in der letzten Nacht einmal mehr unfassbar unruhig geschlafen und ich bin zweimal durch sein Weinen nachts aufgewacht. Entsprechend derangiert hänge ich im Büro rum, freue mich auf mein Bett am Abend und hoffe, dass der Kleine diese Nacht ruhig schläft. Reichlich verwirrt gucke ich Daagii also nach seinen Neuigkeiten an. Überrascht von meiner Reaktion und der perplexen Frage, warum ich denn ins Studiwohnheim ziehen soll, ändert sich Daagiis Gesichtsausdruck in Sekundenschnelle von fröhlich in mindestens genauso verwirrt wie meiner. Wenig später klärt Doljoo das Rätsel auf: Amar, mein Gastvater, hat sie vor ein paar Tagen angerufen und zu verstehen gegeben, dass die Familie nicht länger bereit sei das Zimmer für mich zur Verfügung zu stellen und, dass sie das Zimmer am liebsten sofort zurück hätte.
Von all dem habe ich nichts mitbekommen.
Die Art, wie man in der Mongolei kommuniziert - oder eben nicht kommuniziert - entpuppt sich mehr und mehr zu meinem persönlich größten Problem. Hier ist es nicht typisch, Probleme direkt anzusprechen und mit den Leuten zu klären, die sie betreffen. Stattdessen spricht man mit der ältesten Person der Familie, die dann das nötige Gespräch innerhalb der Familie führt. Nachdem meine Kolleginnen und Kollegen diejenigen sind, die der Bezeichnung Familie für mich hier am nächsten kommen, hat sich Amar an die Älteste eben dieser Familie gewandt - nämlich an Doljoo. Doljoo selbst ist davon ausgegangen, dass Amar das Thema mit mir längst besprochen hat und so sind wir dort, wo ich begonnen habe zu erzählen.
Die letzten Tage
Als ich am Abend nach Hause komme, ist mein Gastvater nicht zu Hause, nur Aza und die Jungs. Ich weiß nicht so recht, wie ich mich verhalten soll, entscheide mich aber letztendlich dafür so zu tun, als wäre nichts. Offensichtlich macht man das in der Mongolei ja so. Die anfängliche Überraschung über die Nachrichten am Nachmittag hat sich schnell in Rätselraten und nicht zuletzt in Enttäuschung gewandelt. Amar hat keinerlei Gründe genannt, warum ich ausziehen soll und so spinne ich die wildesten Theorien in meinem Kopf zusammen, eine unwahrscheinlicher und dramatischer als die andere. Vielleicht ist es schlichtweg die Feststellung gewesen, dass fünf Leute auf so kleinem Raum zu viel sind. Vielleicht hat sich die Familie mehr Beteiligung am Familienleben gewünscht. Vielleicht hat man sich mehr vom Deutschunterricht für den Großen erwartet, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Ich fühle mich in der Luft hängen gelassen und auch wenn es einen arroganten Nachgeschmack hat: ich fühle mich unfair behandelt.Über das Wochenende erreicht meine Ambition Zeit mit der Familie zu verbringen ihren Tiefpunkt. Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und wenn ich nach Stunden dort beängstigend nah am Lagerkoller bin, verlasse ich nicht nur mein Zimmer, sondern gleich die ganze Wohnung. Am Rande bekomme ich mit, dass meine Gasteltern einen Kurztrip nach China machen und eine Verwandte die Kinder hütet, dass meine Gasteltern zurückkommen und die Mutter von Aza aufkreuzt, dass meine Gastmutter samt ihrer Mutter und dem Kleinen aufs Land verschwindet und dass ich nun mit Amar und dem Großen alleine bin. Als ich mittwochs auf die Arbeit komme werde ich gefragt, ob ich schon alles für den Umzug am nächsten Tag gepackt habe. Ich verneine, erkläre laut, dass mir niemand gesagt hätte, wann ich umziehe und verfluche leise einmal mehr die Kommunikation in diesem Land. Zurück in der Wohnung schmeiße ich erst einmal eine Maschine Wäsche an und beginne dann die vergangenen sechs Wochen zurück in meinen großen Rucksack zu packen. Zwischen Tür und Angel berichte ich Amar, dass ich morgen ausziehe - die Neuigkeiten scheinen nicht wichtig genug zu sein, um vom Laptop aufzugucken. Unter die Enttäuschung der letzten Tage mischt sich langsam aber sicher Erleichterung und eine zaghafte Freude über den Auszug. Genau sechs Wochen nach meiner Ankunft in der Mongolei schultere ich also zwischen meinen Kursen an einem normalen Arbeitstag einmal mehr meinen Rucksack und stelle ihn ein paar Straßen weiter in meinem neuen Zimmer ab.
Alles auf Anfang
Vor zwei, drei Wochen sind Lkhagva und ich nach einem recht kurzen Arbeitstag noch etwas durch die Stadt flaniert und an einem der Studiwohnheime vorbeigekommen. Hinter den dreckigen Fenstern habe ich mit Neonleuchten bestrahlte Zimmer gesehen, in denen Jungs oder Mädels zu viert oder sechst in Stockbetten auf einer Fläche kaum größer als mein Zimmer in Kiel gelegen und auf ihren Handys gedaddelt haben. Ich weiß, dass in vielen Ländern noch Doppelzimmer in Studiwohnheimen gängig sind, aber ein Leben wie im Hostel für ein ganzes Studium ist dann doch jenseits dessen, was ich längerfristig ertragen könnte und möchte.
Als mir Daagii berichtet, dass ich nun ins Wohnheim ziehen werde, habe ich augenblicklich das Bild von Lkhagvas und meinem Abendspaziergang wieder im Kopf. Sechsbettzimmer, alles klar, das packe ich vier Wochen. Vierbettzimmer kriege ich vielleicht sogar ein paar Wochen länger hin. Sollte ich irgendwie an ein Zweibettzimmer kommen, dann kann ich hier bis zum Ende bleiben. Letztendlich bin ich in einer Zweier-WG gelandet, in der jede ihr eigenes Zimmer hat. Mit meiner Mitbewohnerin Angie teile ich mir einen Vorraum für Kühlschrank und Schuhe und alles, was man auf seinen acht Quadratmetern nicht haben möchte, und ein Bad. Die Küche teilen wir uns mit den anderen auf dem Flur. Es heißt ja immer das Herzstück einer WG sei die Küche und allem voran der Küchentisch. Hier ist das etwas anders. Es gibt keine Tischkultur wie in Europa. Wenn Familien sich zum Essen treffen, dann nehmen sich alle einen Teller und setzen sich hin, wo immer sie grade eben sitzen wollen. Der Tisch wird dabei seltenst gewählt. Die Küche im Wohnheim ist das beste Beispiel für diese Esskultur: es gibt einen Herd, eine Spüle und eine Anrichte. Tisch? Stühle? Fehlanzeige! Einen Gemeinschaftsraum habe ich auch noch nicht gefunden. Ich suche also weiter das Herzstück mongolischer Wohngemeinschaften. Am Ende meiner Umzugsmittagspause ist immerhin schon das Zimmer umgestellt, der Schrank ausgewischt und mein Rucksack ausgeräumt. Der weiße Lappen ist schwarz und meine Socken ebenfalls. Nach meinem letzten Kurs gehe ich noch mit Baagii einkaufen und sie hilft mir beim Hochtragen einiger Dinge, die ich noch von den Leuten aus dem Büro bekommen habe. Geschirr, Decke und Kopfkissen und Bettzeug. Ich wohne im ersten Stock und mein Zimmer geht Richtung Universität raus. Als ich das Licht anmache und in der Dunkelheit des Abends in meinem Zimmer stehe, können mehr Menschen an meinem Leben teilhaben, als mir lieb ist. Aus Kleiderbügeln und Jacken bastel ich mir einen Sichtschutz und räume dann ein paar Sachen um und auf. Meine Schuhe behalte ich an.
Als ich eine Weile später erschöpft von den letzten Tagen im Bett liege, höre ich im Zimmer hinter der Pappwand jemanden Gitarre spielen und leise singen. Im Vorraum brummt der Kühlschrank ein bisschen zu laut, dafür aber wunderbar monoton, vor sich hin und vor dem Fenster zieht fröhliches Partyvolk vorbei. Ich drehe mich um und schlafe zufrieden ein.
Die ersten Tage
Am Wochenende habe ich endlich Zeit mich einzurichten. Angie ist krank und fährt über das Wochenende zu ihrer Familie, um sich gesund pflegen zu lassen und ich habe die Bude für mich alleine. Die erste Hälfte meines Samstags geht für’s Ausschlafen und Frühstücken drauf. Danach ziehe ich los Richtung State Department Store, wo man alles, was man für die Einrichtung einer kleinen WG braucht, erwerben kann. Als ich zurückkomme, habe ich neben jeder Menge wichtigem Kleinkram das Überlebensgerät schlechthin unter dem Arm: einen Wasserkocher! Nachdem ich rein aus Gewohnheit meine Schuhe beim Betreten des Zimmers ausgezogen und das nächste Paar Socken von bunt in schwarz verwandelt habe, entscheide ich mich für eine spontane Putzaktion. Ich drehe die Mukke auf und stelle wenig später reichlich überrascht fest, dass der Boden entgegen meines ersten Glaubens kein Industrieteppich ist, sondern PVC mit Struktur. Überaus zufrieden mit dem Ergebnis der Putzerei ziehe ich zur zweiten Shoppingtour los.
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Neben dem Wasserkocher die wichtigste Anschaffung: Billo-No-Name-Plastik-Latschen. Authentischeres asiatisches Wohnheimgefühl kriege ich nicht hin! |
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Warum sich extra die Mühe machen und abspülen, wenn man einfach mit dem dreckigen Geschirr duschen gehen kann? |
Abends sitze ich auf dem Bett und habe ein Brett mit Brot und Käse vor mir. Zur Feier des Tages habe ich mir außerdem eine Flasche Rotwein gegönnt. Als ich in Ermangelung eines Korkenziehers den Korken in die Flasche drücke und der Wein ein bisschen sprudelt, erschleicht mich das erste Mal das Gefühl, dass ein 3€ Rotwein nicht die beste Idee war. Ein Schluck aus meinem einzigen und damit zum Weinglas umfunktionierten Thermosbecher bestätigt mein Gefühl. Die Plörre kann man nicht einmal mit gutem Gewissen zum Kochen verwenden. Aber zum verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol zählt eben auch, dass man ihn nicht verschwendet. In meiner Not mische ich den Rotwein mit eiskalter Cola und beschere mir einen wunderbaren Gemütszustand, der auf einer gefährlichen Mischung aus Alkohol, Koffein und Zucker basiert. Das nachfolgende Dekorieren meines Zimmers geht quasi von alleine und während ich mit lieben Menschen in der Heimat schreibe und sie aus meiner stolzen Sammlung von Yogi-Tee-Weisheiten die besten Sprüche aussuchen lasse, entscheidet sich Spotify dazu, dass O Fortuna, die Eröffnung von Carmina Burana, gefolgt von Dies Irae aus dem Verdi Requiem und dem Walkürenritt von Wagner die richtige musikalische Untermalung darstellen. Na dann Prost - auf das Studileben ohne Studium und darauf, dass die Zeit im Wohnheim so episch wie die musikalische Abendgestaltung wird!
Bayrtai und Liebe Grüße aus Ulaanbaatar
Mia
P.S. Wer sich auch an der Dekoration meines Zimmers mit Yogi-Tee-Weisheiten beteiligen möchte, der wähle hier einen Spruch und lasse es mich wissen!
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