#8 Reisegruppe Power-Prius I

Müsste ich die deutsche Küche mit einem Wort beschreiben, wäre es Kartoffel. Das trifft die moderne deutsche Küche zwar nicht mehr so genau, aber besinnen wir uns mal auf die traditionelle deutsche Küche und akzeptieren die Kartoffel als Hauptdarstellerin. Das Wort, das die mongolische Küche am besten beschreibt, ist Fleisch. Das war in der Vergangenheit so, das ist in der Gegenwart so und ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass das auch in der Zukunft so sein wird. Zu diesem Phänomen aber an anderer Stelle mehr.
Vergangene Woche trifft sich die Reisegruppe Luftballon also bei Leo zum Kochen. Die Rahmenbedingungen für das Gericht waren einfach: ohne Fleisch. Der Rest ist allen egal. 
Wir kochen also Nudeln mit Tomatensoße und als der vertraute Geruch von angedünsteten Zwiebeln und Knoblauch durch die Wohnung wabert, blicken wir drei recht verträumt und sehr glücklich drein. Später packen wir Nudeln und Soße auf ein tiefes Backblech, mischen ordentlich durch, belegen das Ganze mit einer nicht unerheblichen Menge an Käse und schieben das Blech in den Ofen. Mit Weingläsern in der Hand stehen wir am Fenster im 12. Stock und lassen unsre Blicke über die bunten Lichter der Stadt schweifen, während wir darauf warten, dass der verdammte Käse endlich braun wird - der Hunger ist groß! Falls sich an dieser Stelle jemand vorgestellt hat, dass diese ganze Weinglas-Fenster-Szene aussieht wie in einer dieser Serien über das Leben der High Society in New York, liegt völlig daneben. Wir haben nur ein normales Wasserglas und eine Tasse, Socken haben Löcher, Haare sind verzottelt, Schminke ist verschmiert und obendrein laufen Schlager im Hintergrund. Was soll’s, es ist immerhin Mittwoch und damit Bergfest! Noch drei Tage, bis wir unseren Mini-Roadtrip starten.

Wir haben uns für Samstagmorgen um halb 9 verabredet. Entgegen aller Gewohnheiten stehe ich um kurz vor 8 frisch geduscht, angezogen, erstaunlich lebendig und bereits mit Kaffee gestärkt mit meinem Gepäck vor meinem Zimmer, als Melle schreibt, dass sie verschlafen hat. Da ist man einmal pünktlich und dann sowas. Ich räume also hier ein bisschen auf, krusche dort ein bisschen rum und vertüdel so viel Zeit, dass ich am Ende doch wieder zu spät bin. Pünktlichkeit ey, das ist so ein Trend, der sich bei mir wohl nie wirklich durchsetzen wird… Melle und ich schnappen uns auf der Ecke ein Taxi und lassen uns beim Auto, das Leo über ihre Firma ausliehen kann, rauswerfen. Dann schmeißen wir unsren Kram in den Prius, gehen noch ein paar Sachen einkaufen und fahren schließlich über eine Stunde später als geplant endlich in Ulan Bator los. 
Es geht Richtung Darchan im Nordwesten von Ulan Bator. Der Himmel ist blauer als Studierende Samstagnacht, die Sonne scheint uns in den Nacken und der Prius entpuppt sich am ersten Berg als Power-Prius. Als ich meinen Kolleginnen im Büro von unserem Wochenendvorhaben erzählt habe, hat sich allgemeine Unruhe ausgebreitet. Die Straße Richtung Darchan ist alt, hat mehr Löcher als Schweizer Käse und winded sich in zahllosen nicht einsehbaren Kurven durch die Berge. Unter den Menschen in der Mongolei ist die Straße auch als Straße des Todes bekannt, weil allein im vergangenen Jahr über 150 Leute auf der Strecke tödlich verunglückt sind. Nachdem Leo schon Mitte der Woche wegen der Fahrt etwas aufgeregt ist, enthalte ich ihr diese Information aber vor und tue auf dem Beifahrersitz mein bestes, damit wir sicher am Ziel ankommen. Zu unserem Glück sind samstags nur recht wenig Autos unterwegs und so dauert es nicht lange, bis wir entspannt im Auto sitzen, Musik hören und uns mächtig cool fühlen. 







Hier ein paar Weisheiten, die die Überlebenschancen auf mongolischen Straßen drastisch erhöhen:

  • Wenn du ganz vorne in der Schlange an der Ampel stehst, aber nicht weißt, welches deine Ampel ist, warte einfach, bis jemand hinter dir hupt.
  • Wenn du nicht weißt, wie schnell du fahren darfst, häng dich einfach an das Auto vor dir.
  • Probier erst garnicht so nah an das Mauthäuschen zu fahren, dass du dem Menschen das Geld direkt in die Hand drücken kannst. Der Herr am Schalter hat einen Müllzwicker, der regelt das Problem!
  • Bremsspuren auf der Straße verraten, wann man für das nächste 30cm tiefe Schlagloch abbremsen muss.
  • Gib dir keine Mühe den Bus am Berg zu überholen, er wird dich in der nächsten Kurve bergab eh wieder überholen - eventuell auch rechts über den Schotter.
  • Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, hupe!

Nach knappen drei Stunden Fahrt kommen wir an unserem Ziel mitten im Nirgendwo an, werden von einer jungen Dame herzlich begrüßt und beziehen dann Ger 3. Übrigens, das Wort Jurte, das den meisten wohl geläufig ist, hört man in der Mongolei nicht gerne, da es ein russisches Wort ist. Das mongolische Wort für Jurte ist Ger und man tut gut daran, es zu verwenden. Die touristische Saison hat noch nicht begonnen und so stehen die traditionellen Gers, wie sie die Nomaden haben, noch nicht. Wir wohnen also in der etwas weniger authentischen Ger-Variante aus Holz. Nicht ganz das, was wir uns vorgestellt haben, aber durchaus auch in Ordnung.
Am Nachmittag bekommen wir einmal mehr die Brillanz der mongolischen Kommunikation zu spüren. Als wir Bescheid gegeben haben, dass wir zu Besuch kommen, haben wir nachgefragt, ob es möglich wäre zu dritt auszureiten. Die Managerin der Secret History Lodge, zu der das Ger-Camp gehört, hat uns daraufhin vorgeschlagen, doch lieber mit Kamelen auszureiten, sie hätten nämlich nur zwei liebe Pferde und das wäre zu dritt ja blöd. Kamele, alles klar, das klingt cool, das machen wir! Auf unsre Frage, wann der Kamelausritt denn letztendlich stattfinden würde, blicken wir in verwirrte Gesichter. Ne, das mit den Kamelen geht nicht, die kann man im Moment nicht reiten. Aber sie hätten zwei liebe Pferde. Wir atmen zweimal tief durch und nicken. Pferde also. Leo war vergangene Woche schon ausreiten und überlässt das Ausreiten Melle und mir. Als wir um halb 2 vor dem Ger-Camp ankommen, wartet dort bereits ein Mitarbeiter mit zwei gesattelten Pferden. Ein Pferd für ihn ist nicht zu sehen und er sieht auch nicht aus, als würde er in seinem Aufzug groß spazieren gehen können. Langsam dämmert uns, dass er uns mit den Pferden alleine losschicken will - Melle und ich können aber beide nicht reiten, wir hatten uns einen gemeinsamen Ausritt vorgestellt, wo man zwar pseudomäßig die Zügel in der Hand halten darf, letztendlich aber geführt wird. Begleitetes Ausreiten sozusagen. Mit Händen und Füßen bringen wir ihm bei, dass wir nicht alleine reiten können und so hilft er uns auf unsre Pferde und stiefelt dann kurzerhand mit den beiden Pferden am Zügel über die Koppel. Zwanzig Minuten später hat dieses unbeschreibliche Abenteuer ein Ende. Dank der getriebenen Kühe fühlen Melle und ich uns ein bisschen wie Cowgirls and weil weder Pferd noch Sattel oder Zaumzeug jemals vom Dreck befreit wurde, sind wir auch mindestens so dreckig wie die echten Cowgirls auf ihren Viehtrieben. Was wir also gelernt haben: für Mongolinnen und Mongolen sind Menschen, die nicht reiten können, so merkwürdig wie für Europäerinnen und Europäer Menschen, die nicht schwimmen können - was auf viele Menschen in der Mongolei zutrifft.



Leo mit dem Ger-Camp im Hintergrund

Eine Art Tipi auf dem Berg hinter dem Ger-Camp. So ganz geheuer ist uns die ganze Szene nicht und so erholen wir uns hier nur kurz vom Aufstieg und wandern dann weiter.

Melle im Tipi mit dem Ger-Camp im Hintergrund

Ein kleines Denkmal mit den buddhistischen Schals in sämtlichen Farben. Rot und Gelb für das Feuer, Blau für den Himmel, Grün für die Wiesen und Weiß für die Milch - zumindest haben wir das in die Ausführungen der einen Mitarbeiterin im Camp später hinein interpretiert.

Wald bekommt man in der Mongolei eher selten zu Gesicht - außer man fährt Richtung Norden!





Um den Unmengen an Adrenalin, die uns dank unseres Teufelsritt durch den Körper jagen, wieder Herrin zu werden, gönnen wir uns erst einmal einen Mittagsschlaf, legen uns in die Sonne vor unser Ger und raffen uns irgendwann dann doch auf, um die nähere Umgebung etwas zu erkunden. Auf dem Hügel hinter dem Camp finden wir einen Ort, an dem Schamanen wohl ihre Séancen abhalten. Wir wissen nicht genau, was man an einem solchen Ort machen darf und was man besser sein lassen sollte, um die Geister nicht gegen einen aufzubringen. Wir laufen unsicher ein bisschen durch die Gegend, machen hier und da ein Bild und verziehen uns dann wieder. Oben auf dem Berg sitzen wir still herum, lassen uns den leichten Wind durch die Haare wehen und die Sonne ins Gesicht scheinen. Als die Sonne langsam hinter einem Berg verschwindet, machen wir uns auf den Weg zurück ins Camp und entdecken zwischen den Bäumen Hexen, Pferde und andere unheimliche Naturgeschöpfe. Wer weiß, was die Schamanen in dem Wald schon alles getrieben haben…







Nach dem Abendessen verziehen wir uns ins Ger, tauschen Jeans gegen Jogger und knallen die Literfalsche Wodka auf den Tisch und setzen uns darum herum. Erst gespannte Stille, dann ein Blick in die Augen der anderen, ein Nicken und los! Den Rest des Abends beschreiben diese Zeilen aus dem wohl bekannten Dschings Khan Lied äußerst detailgetreu. 

Dsching, Dsching, Dschingis Khan.
Auf Brüder! Sauft Brüder! Rauft Brüder! Immer wieder!
Lasst noch Wodka holen,
Denn wir sind Mongolen
Und der Teufel kriegt uns früh genug!
Dsching, Dsching, Dschingis Khan.
He Reiter! Ho Reiter! He Reiter! Immer weiter!
Dsching, Dsching, Dschingis Khan.
He Männer! Ho Männer! Tanzt Männer! So wie immer!
Und man hört [uns] lachen,
Immer lauter lachen
Und [sie leeren] den Krug in einem Zug.

Als wir am nächsten Morgen aufwachen kann man die Luft im Ger schneiden und es sieht so aus, wie sich 2/3 von uns fühlen - zerstört. Den Rest des Tages liegen wir bei angenehmen zehn Grad draußen in der Sonne, hören Musik, lesen, dösen, schmieden die nächsten Reisepläne und lachen auf, wenn eine von uns auf Kamera oder Handy wieder etwas entdeckt hat, das zur Rekonstruktion des Abends beiträgt. Am späten Nachmittag steigen wir in unseren Power-Prius, holpern auf der unsäglichen Schotterpiste den Berg runter, setzen den Blinker rechts Richtung Süden und fahren der Sonne entgegen nach Hause.

Bilanz: das Wochenende war mindestens so herausragend wie mein Outfit!




Als ich am Abend zu Hause in meinem Bett liege und durch Facebook scrolle, lese ich die Sonntagsfrage des Süddeutsche Zeitung Magazins, die es wöchentlich seinen Leserinnen und Lesern stellt:

Wird einem nirgendwo stärker bewusst als am Meer, wie sehr man die Freiheit braucht, die Unendlichkeit mit all ihren Möglichkeiten von Nähe und Distanz?

Bis vor gar nicht so langer Zeit hätte ich diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet. Spätestens nach diesem Wochenende bin ich mir da aber gar nicht mehr so sicher. Ich bin in den vergangenen zwei Monaten schon das ein oder andere Mal in der Steppe unterwegs gewesen und das Gefühl auf einem Hügel zu stehen und über diese wunderschöne Hochebene zu gucken, sich den Wind ins Gesicht wehen zu lassen und so weit das Auge reicht kein Ende zu sehen, ist unbeschreiblich. Vielleicht stimmt es, dass einem nirgendwo stärker bewusst wird als am Meer, was Freiheit und Unendlichkeit bedeuten. Aber in der Steppe auf diesen scheinbar ewigen Flächen zu stehen, die irgendwo am Horizont in die endlose Weite des ewigen blauen Himmels übergehen, kommt dem Gefühl am Meer erstaunlich nah - zumindest für mich.



Bayartai und liebe Grüße aus Ulan Bator

Mia

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